Mit dem Zaun brachen Welten zusammen

Text: Benedikt Mair und Max Ischia
Digitales Storytelling: Florian Margreiter

Nach dem Air+Style-Contest im Innsbrucker Bergiselstadion zerbirst eine Absperrung, es kommt zu einer Massenpanik. Sieben junge Menschen sterben, viele weitere kämpfen nach wie vor mit den Folgen. Heuer jährt sich das Unglück zum 25. Mal. Zwei Betroffene erinnern sich.



Vom Fenster des Klassenzimmers aus sieht sie Woche für Woche, Tag für Tag den Ort, an dem sich ihr Leben, das ihres Sohnes und der ganzen Familie für immer verändert hat. Susanne Mayrhofer, 62 Jahre alt, eine quirlige Frau, ist Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule Tirol und hat mit den verhängnisvollen Momenten, die sich vor einem Vierteljahrhundert am Innsbrucker Bergisel abgespielt haben, eigentlich Frieden geschlossen. Aber jetzt, rund um den Jahrestag des Unglücks, werden die Bilder im Kopf wieder intensiver. „Irgendwie dachte ich, dass wir im Prozess der Aufarbeitung viel weiter sind“, sagt Mayrhofer. Dann steigen ihr Tränen in die Augen.

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From farm to beer

Am Abend des 4. Dezember 1999 herrscht dichtes Gedränge im alten Bergisel-Stadion. 20.000, 30.000 oder 45.000 Fans sind gekommen – wie viele genau, das wird nie ganz geklärt. Sie alle wollten die waghalsigen Sprünge der Athleten bestaunen, Party machen, ein Lebensgefühl feiern. Doch auf das rauschhafte Hoch folgt ein unendliches Tief.

Nach Ende des Air+Style-Snowboard-Contests und noch vor der Siegerehrung drängen Tausende zu den Ausgängen. Beim Westtor sammelt sich die Menge, ein Absperrzaun bricht. Auf dem schmalen Pfad kommt es zu tumultartigen Szenen, Panik kommt auf, Menschen stürzen und werden von der nachdrückenden Masse begraben. Fünf Frauen im Alter zwischen 15 und 21 Jahren sind sofort tot oder sterben auf dem Weg ins Krankenhaus, zwei weitere Mädchen Jahre später an den Folgen des Unglücks. 38 Besucher werden schwer verletzt, mehrere von ihnen bleiben Pflegefälle.

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Einer davon ist Susanne Mayrhofers Sohn Wolfgang, damals 15 Jahre alt. „Der 4. Dezember war eigentlich ein total schöner Tag“, erinnert sich die Mutter. „Am Nachmittag sind wir mit unserer Tochter Langlaufen gegangen. Die beiden Söhne fuhren nach Innsbruck zum Event.“ Ohne Streit, im Guten seien sie auseinandergegangen. Ein Gedanke, der Mayrhofer nach wie vor irgendwie Halt gibt.

Und du schaust nur, dass du funktionierst.

Susanne Mayrhofer

„Später am Abend erfuhr ich dann durch Zufall aus den Nachrichten, dass sich am Bergisel etwas Schlimmes ereignet hat“, sagt sie. „Weil keiner wusste, wo unser Wolfi ist, habe ich die Spitäler im Großraum Innsbruck abtelefoniert. An der Klinik fanden wir ihn dann.“ Mehrere Wochen lang lag der Jugendliche im Koma. Bangen, Hoffen, die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Warum. Eine Fülle an Gefühl, die jedes Familienmitglied in dieser Zeit überrollte. „Es ist wie in einem Tunnel“, meint Mayrhofer. „Und du schaust nur, dass du funktionierst.“

Ihr Sohn überlebt, kommt ins Krankenhaus Hochzirl, beginnt die Reha. Wolfgang Mayrhofer sitzt immer noch im Rollstuhl, wird ein Leben lang beeinträchtigt bleiben. Aber seine Mutter ist froh, dass „ich ihn überhaupt noch bei mir habe“.

Ich bin in das viel zitierte Schwarze Loch gefallen.

Andrew Hourmont

Die ersten zehn Jahre nach dem Unglück seien für ihn besonders schlimm gewesen, sagt Andrew Hourmont. Er hat das Air+Style erfunden, veranstaltet, war sein Gesicht. Und auch das Gesicht der Tragödie. Anschuldigungen prasselten auf ihn ein: zu viele Leute im Stadion, die Sicherheitsvorkehrungen zu lasch. Hourmont kennt jeden dieser Vorwürfe. Fast wäre er daran zerbrochen. „Ich bin in das viel zitierte Schwarze Loch gefallen“, sagt der 58-Jährige, der sich zurückgekämpft hat. Auch wenn auf ewig Narben bleiben.

Der gebürtige Waliser blickt nach mehreren Jahren in Kenia wieder nach vorne, in Richtung Events. Und damit auf seinen Schicksalsberg: den Bergisel. Dort, an der Geburtsstätte des Kultevents und der bis heute nachwirkenden Tragödie, soll es Ende 2025 oder Anfang 2026 zu einem Veranstaltungs-Comeback kommen. „Wenn alles klappt, wird es an den zwei Wettkampftagen Big-Air-Weltcups im Snowboard und Freeski geben.“ Dass das sportive Treiben in entsprechend hochklassige Music-Acts eingebettet wird, ist bei ihm gewissermaßen Programm. „Wir wollen der Jugend den coolsten Tag bescheren.“

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Zum Jahrestag wird Hourmont auch nicht an den Ort des Unglücks zurückkehren. „Ich werde im Wald spazieren und ganz bewusst in mich gehen. So wie ich das immer wieder einmal mache.“ Mit dem, was 1999 passiert ist, hat sich Hourmont inzwischen abgefunden. „Aber in erster Linie, weil ich das Unglück nicht auf einen Tag beziehe. Es ist vielmehr Teil meines Lebens, mit dem ich jeden Tag klarkommen muss.“

Strafrechtliche Konsequenzen gibt es für ihn nicht. Auch alle anderen Angeklagten werden freigesprochen. Der letzte Prozess endet im Jahr 2005. Als Folge der Ereignisse wird das Stadion umgebaut, neue Sicherheitskonzepte entstehen, auch bei anderen Veranstaltungen wurde diesen mehr Beachtung geschenkt. Stadt Innsbruck, Land Tirol und Uniqa-Versicherung einigen sich mit den Opfern auf eine Schadenersatzzahlung von 10,7 Millionen Euro.

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Bis um halb fünf Uhr wird Susanne Mayrhofer am 4. Dezember unterrichten. „Und danach schaue ich auf meine Enkelkinder“, sagt sie. Am Bergisel sei vor 25 Jahren „ganz viel danebengegangen. Aber es ist jetzt, wie es ist. Und es ist mir wichtig, an das zu erinnern, was passiert ist. Weil wir Menschen aus den Fehlern der Vergangenheit auch immer lernen können.“

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